Eine Erinnerung

Am 1. Januar 2022 verstarb Univ. Prof. Dr. Rudolf Slavicek

Eine Erinnerung von Dr. Axel Lanzendörfer

„Erst der Verlust lehrt uns den Wert der Dinge und der Menschen“ (nach Schopenhauer) und das spüren wir beim Verlust der Gesundheit und wir spüren schmerzlich den unersetzlichen Verlust von Menschen, die uns motiviert haben, die uns begleitet haben, mit denen wir uns auseinandergesetzt und - meist sehr positiv - gerieben haben, die wichtig waren und sind, gerade weil sie nicht mehr sind und uns ungerührt weiter kritisch über die Schulter schauen.

 

Der Tod, das muss ein Wiener sein:
Dort drob‘n auf der goldenen Himmelbastei,
da sitzt unser Herrgott ganz munter
und trinkt ein Glas Wein oder zwei oder drei
und schaut auf die Wienerstadt runter.

Die Geister, die geistern bei ihm umeinand,
ja er hat's in der Hand jederzeit.
das Glück und das Unglück, den Tod und die Schand‘
und die Lieb' und den Hass und den Neid

Und den Geiz und die Gier und die Gall' und die Gicht -
Ja, da gibt's eine sehr große Schar.
Wie die Geister dort ausschau'n, also das weiß ich nicht,
Aber eines ist mir völlig klar:

Der Tod, das muss ein Wiener sein,
Genau wie die Lieb‘ a Französin.
Denn wer bringt dich pünktlich zur Himmelstür?
Ja, da hat nur ein Wiener das G‘spür dafür.
Der Tod, das muss ein Wiener sein,
nur er trifft den richtigen Ton:
Geh Schatzerl, geh Katzerl, ja was sperrst dich denn ein?
Der Tod muss ein Wiener sein.

Georg Kreisler (1922 – 2011)

 

Und dann, nach so vielen Mühen, Krankheiten, Operationen und dennoch bis zuletzt Lesungen vor einem wirklich weltweiten, jungen, begeisterten Publikum, wird er - nach respektvollem Zögern - am 1. Januar geholt, während sich über eine Milliarde Menschen von den Klängen des Neujahrskonzerts verzaubern lassen.

Da war er längst ein Klassiker, ohne verstaubt zu sein, dessen wichtigen Texten man sich auch immer wieder zuwenden kann/sollte, denn bezogen auf Musik:

„Hätte man wirklich wie man meint, beim ersten Anhören überhaupt keinen Eindruck gehabt, so würde das zweite oder dritte Anhören wiederum ein erstes Mal sein und es wäre nicht einzusehen, weshalb beim zehnten Male plötzlich das Verstehen kommt. Was das erste Mal fehlt, ist offenbar nicht das Verständnis, sondern nur das Gedächtnis…

Das Gedächtnis ist nicht imstande, von so vielfältigen Eindrücken uns auf der Stelle ein Erinnerungsbild zu liefern. Dies aber bildet sich nach und nach und mit Werken, die man zwei- oder dreimal gehört hat, geht es einem wie dem Schüler, der vor dem Einschlafen mehrmals eine Lektion durchgelesen hat, die er nicht zu können meinte und die er am Morgen auswendig hersagen kann“ (Marcel Proust).

Aber man spürt den kritischen Blick in den Zeilen, der Bewertung ohne Bewunderung, Bilanz statt Beweihräucherung verlangt. Also auch Erinnerung, wie in „Die Suche nach der verlorenen Zeit“, und da droht die Nostalgiefalle mit der Sehnsucht nach der besseren Vergangenheit. Wieder österreichisches Terrain:  André Heller.

Wie alles begann? In der „gnathologischen Szene“, in den 70er Jahren, dominiert von den Amerikanern Stuart, Dawson, Lauridsen (dän.), dann Bauer, Gutowski - Doppel-Axel - meldete sich R. Slavicek zu Wort, um m.E. einem rein mechanistischen, technikafinen (z.B. möglichst nur 4 mm² Kontaktfläche aufwachsen) Denken über das dentale (Bohrer-Gill-Bill) und das funktionelle/neuromuskuläre System (Gelenke) auch eine ganzheitliche Sicht auf den Patienten hinzuzufügen.

Das war sicher auch der damaligen österreichischen Ausbildung geschuldet, die die Zahnärzte nach erfolgreichem Medizinstudium als weitergebildete Fachärzte ausbildete und weiterentwickelte. Und nun gab es jemanden mit einem breiteren - synoptischen - Blick auf den Patienten, unterstützt aber auch losgelöst vom Tunnelblick durch die (damals ohnehin noch sehr verzerrende) Lupenbrille. Verzerrend und verzehrend waren damals auch endlose, z.T. aggressive Diskussionen über Zentrik (rearmost, uppermost, midmost, freedom in centric etc.), über Artikulatoren (der mit dem Stuart sich den Wolft tanzt, war der 3 Sterne-Gnathologe, der mit dem Denar fühlte sich dem Dentatus-Mann überlegen, geflügeltes Wort: Mit dem Artikulator kann man artikulieren, mit dem Okkludator okkludieren, mit dem Kondylator kondolieren?...).

Dabei benutzte die große Mehrheit damals allenfalls einen Klipp-Klapp. Warum diese Feindschaft innerhalb derjenigen, die eine progressivere Zahnheilkunde wollten?  „Durch die mechanistische zahnärztliche Bedeutungserklärung einer postulierten Präzision in hundertstel Millimeter verdienen wir das Unverständnis und das Kopfschütteln der medizinischen Orthopädie.“ RS.

Rudi Slavicek konnte und wollte sich durchsetzen, war aus unserer Sicht bei allen breit gestreuten Interessen nicht harmoniesüchtig, sondern mit Ecken und Kanten bereit, den Gegner, der nicht der eigentliche Gegner war.

Dann neigte er den Kopf zur Seite, hörte mit dem Zeigefinger auf den Lippen zu (gelernt bei Sammy Molcho, wieder ein Wiener), als zwinge er sich, seine Argumente zurückzuhalten. Aber dieser Zeigefinger schoss dann oft wie aus der Pistole zurück.

Rudi Slavicek gab Kurse in München (IOK), dann im IFZ und ich hatte das Glück, ihn mehrfach im kleinsten Kreis in der Praxis Bosler in Hamburg zu „erleben“. Er reiste damals mit einem Koffer gefüllt mit vermutlich mehr als 20.000 Dias, um jederzeit Unklarheiten beseitigen zu können. Außerdem waren dies praktische Kurse am Patienten, in denen er seine Vorgehensweise, seine Diagnostik und seine Therapie demonstrierte (also Funktionsanalyse, PA-Techniken, Präparationen, Schienenbehandlungen bis hin zur Totalprothetik) und natürlich waren Hamburger Patientinnen nicht unbeeindruckt vom Wiener Schmäh inkl. angedeutetem Handkuss…

Man lernte Patientenführung: Einer schwierigen Patientin mit komplizierter prothetischer Versorgung sagte er zum Abschluss: „Und denken’s dran, Ihre beste Freundin wird sagen – ‚Was? Für diese Zähne hast Du Dich so quälen lassen‘ – weil sie nicht selber bereit ist, ihre Situation verbessern zu lassen.“

Mir wurde klar, dass eine optimale Fortbildung nur im kleinen Kreis („Jesus + 12 Jünger“) mit praktischen Demonstrationen, praktischen Übungen der Teilnehmer und engem, quasi familiärem Kontakt der Kursteilnehmer untereinander (mit Tipps und Tricks) und zum Referenten optimal gestaltet werden kann.

Mein erster Slavicek-Kurs am IFZ war dann sein erster Fernröntgenkurs, damals noch im Maritim-Hotel mit insuffizienter Heizung und einer Schleuderpartie mit meinem Freund Michael Weltzsch auf der verschneiten Autobahn in seinem GTI. Wir froren in unseren Parkas, waren ziemlich ratlos und 2 Teilnehmer hatten sich Röntgenbildschirme aus Schubladen mit seitlich montierten Neonröhren und Milchglasscheiben gebastelt. Pioniergeist!

Und dann lernte ich Diether Reusch bei einem Kurs von Rudi Slavicek über „gehämmerte Goldfüllungen“ kennen und war so fasziniert, einen so engagierten Zahnarzt in meinem Westerwald zu haben. Der Beginn einer lebenslangen Freundschaft – hoffentlich – und einer ersten Nacht, die ich mit ihm im „Kaiserhof“ fast komplett durchdiskutiert habe und mit noch vielen weiteren nächtlichen Diskussionen.

Der Kurs war übrigens mangels Absprache mit dem IFZ schlecht vorbereitet, Amalgamstopfer mussten zu halbwegs brauchbaren Instrumenten umgeschliffen werden, Rudi Slavicek schimpfte und schaffte es trotzdem, die Kursteilnehmer zu fesseln. Charisma / Schimpf / Wissensarroganz? Es folgten die obligatorischen Aufwachkurse mit der Begegnung und dem Kennenlernen von Herbert Fischer, seinem „begnadeten“ Zahntechniker (wenn neben Paul Gerd Lenze überhaupt jemand dieses Adjektiv verdient), die SAM-Kurse (anfangs noch mit mehr oder weniger harmonierenden Rudi Slavicek und Heinz Mack und zunehmend immer wieder mit praktischer Unterstützung von Wolf-Rüdiger Böse - „Bölle“), schließlich trafen sich die Jünger…? im Wiener Modul zu Fallplanungskursen. Entgegen der ursprünglichen Intention wurden die Fälle jedoch nicht entsprechend der Therapieplanung weiterbehandelt und dokumentiert, sondern man reiste das nächste Mal mit einem neuen „Problemfall“ an.

Darüber hinaus gab es Marathonkurse, die im Laufe einer Woche mit gegenseitigen Analysen der Teilnehmer alle Aspekte von Diagnostik und Therapie behandelten. Rudi Slavicek versuchte immer auch verbal den exakten Ausdruck zu finden und zu verwenden und er betonte oft, dass man Erfahrung besonders dann benötigt, wenn man sie noch nicht besitzt und dass dieser Beruf sehr von Erfahrung abhängig ist. Erfahrungen sind im Gegensatz zu Meinungen nicht wählbar! Fichte hat gesagt, Erfahrung sei das System der vom Gefühl der Notwendigkeit begleiteten Vorstellungen. Je mehr Tendenz das eigene Leben unwillkürlich entwickelt, desto deutlicher erfährt man, was man braucht (Begriffsapothekerei will uns mit Schubladen plagen).

So wie er in vielen Bereichen sperrig bis unbequem sein konnte, war er konsequent gegen Sprachmüll, Jargonismen, Bläh-Formen und hohen Fremdwortfrequenzen. Stattdessen gab es Bemerkungen wie:

  • „Da musst‘ halt aufpassen wie ein Haftelmacher!“
  • „Das waren Schneider, die beim Anprobieren von Korsetts die Verschlussschnallen befestigen mussten, während die Kundinnen auf Taille bedacht die Luft anhielten. Waren die Schnallen zu eng platziert, drohten die Frauen zu ersticken bzw. zu kollabieren, waren sie zu weit, waren die Kundinnen wegen fehlender Wespentaille unzufrieden.“
  • „Übrigens ist mir alles verhasst, was mich bloß belehrt, ohne meine Tätigkeit zu vermehren oder unmittelbar zu beleben“ (Goethe).

 

Eine andere Aussage war:

  • „Das Herz ist doch genau betrachtet ein simples Organ und wird überbewertet; aber das Kauorgan, das ist wirklich kompliziert als kybernetischer Regelkreis mit den vielen Aufgaben und Einflüssen, es ist überlebenswichtig im Stressmanagement, da die psychischen Belastungen auch unter anderem durch die extreme Zunahme an Informationen sich vergrößern.“ – „Wir haben zu viel zu wissen gekriegt und fangen zu wenig damit an“. (S. Kierkegaard).
  • „Ihr habt eine besondere Art, ein Ding aufzufassen und hundert zerstreute Spiegelscherben zu stellen, dass sie die Strahlen auf einen Punkt werfen“ (Matthias Claudius über Herder).
  • „Woher nehm‘ ich mir die Zeit, das alles nicht zu lesen?“ (Karl Kraus, schon wieder ein Wiener).
  • „Wer all zuviel umarmt, der hält nichts fest“ (Hugo von Hoffmansthal, noch ein Wiener).

 

Aber Informationsmanagement war auch eine Stärke von Rudi Slavicek, auch wenn wir lange auf sein Buch „Das Kauorgan“ warten mussten. Es hieß dann tröstend, es erscheine im Oktober und später entschuldigend: „Ich hab‘ nicht gesagt, in welchem Jahr.“

„Im Reich der Zwecke hat alles entweder einen Preis oder eine Würde. Was seinen Preis hat, an dessen Stelle kann auch ein anderes Äquivalent gesetzt werden; was dagegen über allen Preis erhaben ist, mithin kein Äquivalent verstattet, das hat eine Würde (Kant).

Wir ersuchen weiter den bewussten Übergang von der Medizin als einer bloßen Heiltechnik zu einer Medizin als umfassender Heilkunde. So müssen die meisten Funktionsstörungen des Kauorgans immer auf umweltkausale Einflüsse überprüft werden. Wesentlich muss auch für die ZA sein, dass die Bagatellisierung von Detailkenntnissen speziell zur Okklusion wie dies derzeit von wissenschaftlichen „Trendsettern“ versucht wird, gefährliche Folgen haben kann.

Eine philosophisch zu begründende Anthropologie und – in praxi – eine ökologische Ethik, dessen Kriterien wie folgt formuliert werden könnten:

  1. Wir haben es zu tun mit einem Lebendigen, das um eine Unendlichkeit höher, komplexer, wertvoller ist als alles, was wir herstellen, machen oder reparieren.
  2. Wir selber sind ja auch nicht gemacht oder machbar, sondern organisch gewachsen und historisch geworden, wobei es nicht unwesentlich ist, ob der Mensch dabei als „geworfen“ oder „erschaffen“ gilt.
  3. Wir sind weder autonom noch stark. Wir sind mit anderen und für andere da, geschaffen und berufen zu einem Wirken an und mit einer Welt des Lebendigen.

 

„Die Zukunft liegt nicht darin, dass man an sie glaubt oder nicht an sie glaubt, sondern darin, dass man sie vorbereitet“ (E. Fried)

„Philosophieren heißt sterben lernen“. (Montaigne)

„Das Sterben ist der Augenblick jener Befreiung von der Einseitigkeit einer Individualität, welche nicht den innersten Kern unseres Wesens ausmacht, vielmehr als eine Art Verirrung desselben zu denken ist: Die wahre, ursprüngliche Freiheit tritt wieder ein, in diesem Augenblick, welche, im angegebenen Sinn, als eine restitutio in integrum (Wiedereinsetzung in den vorherigen Stand: Ausdruck des römischen Rechtes) betrachtet werden kann.“ (Schopenhauer)

Wir sind – wie viele andere unserer Mitstreiter – unendlich dankbar dafür, dass wir Rudi Slavicek als Lehrer, Motivator, Mentor und kritischen väterlichen Freund kennenlernen und erleben durften.